Sicherheit – Gefühl – Gefahr

Ein Gastbeitrag von Stephan Becker Sonnenschein

Advent 2018: Der ominöse „Berliner-Express“ vermeldet, dass die Fraktion der Grünen im Bundestag ein „Verbot von brennenden Kerzen in Innenräumen“ fordern will, weil eine Kerze rund 120-200 Milligramm Stickoxide ausstoße, also ungefähr das Drei- bis Fünffache eines Diesels. Der darf auf deutschen Straßen nur 40 Milligramm ausstoßen.

Die Meldung wurde schnell von seriösen Medien aufgegriffen, verbreitet – und geglaubt. Nach dem Veggie Day fordern die Grünen also jetzt Clean Christmas. Es hätte ja auch einen added value, dann brennen weniger Wohnungen ab.

Schnell entpuppte sich die Meldung aber als „Fake News“.

Doch warum wurde sie sofort geglaubt? Zum einen, weil man den Grünen diese Forderung durchaus zugetraut hätte. Zum anderen, weil sie die heutige Vorstellung von Sicherheit und Gesundheit einer Gesellschaft aufgreift, die alle Gefahren vermeiden will. Luftverschmutzung im eigenen Wohnzimmer, womöglich noch bei Familien mit Kindern. Skandal. Schließlich muss man doch die Kinder schützen.

Wie kommt es, dass wir Deutschen solche Sicherheitsfanatiker sind?

Der Begriff Sicherheit hat sich einem Wandel unterzogen. Früher stand er für Schutz vor Krieg, Überfällen oder Krankheiten. Kurzum die klassische Gefahrenabwehr. Heute definiert sich Sicherheit anders: Prävention, also die vorsorgliche Abwehr vermeintlicher Gefahren, hat den klassischen Sicherheitsbegriff ersetzt.

Nachdem in Europa viele elementare Gefahren für Leib und Leben überwunden sind, muss uns das Vorsorgeprinzip gegen verbleibende echte, aber auch eingebildete Gefahren schützen. Die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (o.J.) schreibt: „(Es) hat sich auch die Art verändert, Sicherheit herzustellen. Während lange der Fokus auf der Bedrohungsabwehr lag, ist nun die Risikovorsorge wichtiger geworden. Es werden also eher präventive und proaktive Maßnahmen ergriffen. All diese veränderten Rahmenbedingungen fasst der Terminus ‚erweiterter Sicherheitsbegriff‘ zusammen.“

Je sicherer eine Gesellschaft ist, desto aufmerksamer scheint sie vermeintliche Bedrohungen dieser allumfassenden Sicherheitskultur wahrzunehmen. Daase (2016) definiert Sicherheitskultur als „die Summe der Überzeugungen, Werte und Praktiken von Institutionen und Individuen […], die darüber entscheiden, was als eine Gefahr anzusehen ist und wie und mit welchen Mitteln dieser Gefahr begegnet werden soll“. Überzeugungen, Werte und Praktiken sind aber individuell unterschiedlich, je nach Person und nach seiner Haltung ausgeprägt. Daher wird heute auch über das Sicherheitsgefühl und nicht mehr über Sicherheit gesprochen.

So entsteht ein „gefühltes“ gesellschaftliches Stimmungsbild, eben das Sicherheitsgefühl. Hat die Anzahl der Befürworter einer Haltung, auch einer gefühlten Haltung, 20 bis 25 Prozent erreicht, dann spricht man von Tipping Point. Die Stimmung dreht sich und immer mehr Menschen beginnen, für die neue Haltung Verständnis zu haben. Der Druck auf die Politik wächst und sie wird aufgefordert zu handeln. Es werden keine Argumente und Fakten ausgetauscht, sondern Zweifel kommuniziert.

Die Politik hat dann abzuwägen, ob eine gefühlte Sicherheitsbedrohung noch im Verhältnis steht zu den bestehenden Regeln, Normen und Gesetzen. Behörden wie das Bundesamt für Risikoanalyse, sind dann gefordert, das Risiko zu bewerten und eventuell eine Anpassung von bestehenden Regeln, Grenzwerten, Verordnungen oder Gesetze zu empfehlen. Die Spirale lässt sich beliebig weiterdrehen, da die gefühlte Sicherheit nicht mehr faktenbasiert ist, sondern eben nur noch individuell wahrgenommen wird.

Was hat diese Einführung mit Professor Romy Fröhlich zu tun?

Ein Blick zurück.

Die Lebensmittelbranche in Deutschland ist seit vielen Jahren heftig mit dem oben beschriebenen Phänomen konfrontiert. Der Begriff „Lebensmittelsicherheit“ im Sinne des Verbraucherschutzes als Gefahrenabwehr ist in Richtung Prävention ergänzt worden. Er wird immer dann ins Spiel gebracht und zitiert, um technologische oder produktspezifische Entwicklungen bei Herstellung oder Verbreitung von Lebensmitteln als womöglich gesundheitsgefährdend oder nicht nachhaltig in Verruf zu bringen. Entlang der gesamten Wertschöpfungskette wird mit dem Argument „womöglich halten Verbraucher das für nicht sicher“ argumentiert. Das beginnt bei der Pflanzen- oder Tierzüchtung mit Methoden wie CRISPR, beim Ackerbau mit dem Einsatz von Glyphosat, bei der Tierhaltung mit Tierfutter, bis hin zu den Back-Rezepten, die angeblich zu viel Zucker enthalten, was der Gesundheit schade.

Prof. Romy Fröhlich hat im Jahr 2013 zu dem Thema Lebensmittelsicherheit eine Befragung für den damals neu gegründeten Verband „Die Lebensmittelwirtschaft e.V.“ in Berlin durchgeführt. Die Studie trug den Titel „Informationsprozesse und -strukturen im Themenfeld Lebensmittelsicherheit. Eine qualitative Befragung von Journalisten und Vertretern von NGOs, öffentlichen Institutionen und Verbänden.“

In dieser Studie wurde auf die „Reflexhaftigkeit“ zwischen den Kommunikationsgruppen der NGOs und den Medien hingewiesen, die bei dem Thema Lebensmittelsicherheit vorherrscht. Der Begriff Lebensmittelsicherheit sei nicht eindeutig definiert. Alle gesetzten Themen, die im weitesten Sinne Sicherheit beinhalten, werden medial als relevant für die Verbraucher und deren Schutz eingeschätzt. So ist fast jede Story, die an der Sicherheit zweifelt, eine Story oder gar ein „Skandal“.

Es gibt zusätzlich einen „Mismatch“ in der Kommunikation zwischen NGOs und Medien: „die befragten Organisationen (haben) vergleichsweise konkrete Themenvorstellungen, […] während dies bei den befragten Journalisten nicht der Fall ist“ (Fröhlich, 2013, S. 45). So ergibt sich eine hierarchische Kommunikation durch die Begriffsbesetzung durch die NGOs und unreflektierte Übernahme durch Journalisten, die beide von der Arbeit des jeweils anderen profitieren. „In unsere Studie erscheinen die (NG)Organisationen als diejenigen, die eine konkrete Agenden-Vorstellung haben, und die Journalisten als diejenigen, die mit großer Wahrscheinlichkeit diesen (gesetzten) Agenden lediglich folgen. Für die (NG)Organisationen ist das ein durchaus erfreuliches Ergebnis, denn es legt die Vermutung nahe, dass sie sich in der (ver)öffentlich(t)en (Medien)Agenda Gehör verschaffen können“ (ebd.).

Da beide Seiten das Thema Lebensmittelsicherheit für relevant halten, aber die Definition von Lebensmittelsicherheit im vagen bleibt, können immer neue Themen gesetzt werden, die die Sicherheit in Frage stellen. „Das wiederum erschwert eine tiefgehende differenzierende Auseinandersetzung mit dem Gesamtphänomen ganz erheblich. Man könnte befürchten, dass genau daran niemand aus den beiden Befragtengruppen ein besonderes Interesse hat.“ (ebd.)

In der Studie bleibt nicht unerwähnt, dass der Dritte im Bunde, die Lebensmittelbranche – bestehend aus Erzeuger, Industrie und Handel – lange nicht die Chance ergriffen hat, eine Klärung herbeizuführen.

Unternehmen sind in Diskussionen mit NGOs und Medien auffallend zurückhaltend. Auch die sie vertretenden Verbände neigen dazu, der Kommunikation eher aus dem Weg zu gehen, als aktiv am Diskurs teilzunehmen. So erhalten Journalisten bei Anfragen von Unternehmen oft keine Statements oder hochrangige Gesprächspartner angeboten. „Die Details der Interviews zeigen aber, dass dieser große Gap zwischen (NG)Organisationen und Industrie wenn nicht vor allem, dann doch zumindest unter anderem auch deshalb entsteht, weil die Kommunikationsarbeit der Industrie von den Medienvertretern als so deutlich schlechter bewertet wird als die der (NG)Organisationen.“ (Fröhlich, 2013, S. 46).

Was hat sich seit dieser Studie getan?

In den vergangenen vier Jahren hat sich die Branche, unterstützt durch Unternehmen und Verbände, gezwungenermaßen intensiv mit Kommunikationsstrategien befasst und diese auch umgesetzt. Kongresse wie „Farm and Food“, „World Food Convention“, „AgTech FoodTech Summit“, „Future of Food“, „Future Food“, „Zukunftsdialog Agrar und Ernährung“ oder der „Global Food Summit“ sind initiiert und regelmäßig durchgeführt worden.

Damit sind die Empfehlungen der Studie von den Akteuren der Lebensmittelbranche beherzigt worden. Die Studie von Prof. Fröhlich kann somit einen hohen Anteil an dieser Entwicklung für sich reklamieren und hat dazu beigetragen, „etwas zum Positiven zu verändern“, wie im letzten Satz der Studien-Empfehlung zu lesen war.

Der skandalisierende Krisenmodus in der Kommunikation über Lebensmittel ist stark zurückgegangen. Durch eine aktive, transparente und faktenbasierte Kommunikation konnte die Branche wieder die Zügel in die Hand nehmen und den Medienvertretern eine Kommunikation auf Augenhöhe anbieten und der Kommunikation der interessensgeleiteten (NG)Organisationen etwas entgegensetzen.

Auffällig ist aber, dass die Branchen nicht jedes Lebensmittelthema gleich aktiv kommuniziert. Das wichtige und zukunftsweisende Thema Lebensmittelinnovationen ist kommunikativ noch nicht in vollem Umfang aktiv vorangetrieben worden.

Milch ohne Kühe, Eiweiß ohne Hühner, Rindfleisch ohne Rinder und Gemüse ohne Ackerfläche – die Landwirtschaft der Zukunft findet nicht mehr im Stall oder auf dem Acker statt, sondern in urbanen Nahrungsmittel-Laboren im Herzen unserer Städte. Hier bahnt sich ein Paradigmenwechsel in der Lebensmittelproduktion an, getrieben von den urbanen Zentren und den SDG 2030. Dadurch ändert sich die etablierte Wertschöpfungskette und bewirkt einen Strukturwandel in Landwirtschaft, Handel und Industrie.

Während die USA und China uns in diesem Bereich enteilen, werden in Deutschland Sicherheitsbedenken formuliert: „Wir brauchen Entscheidungssicherheit“. Dabei ist hinlänglich bekannt, dass es bei Entscheidungen zwar eine Folgenabschätzung geben kann, aber ein abschließender Effekt in Sachen Sicherheitsstandard ist erst in einigen Jahren oder Jahrzehnten möglich.

Aufsetzend auf den bestehenden Gesetzen für Lebensmittel ist in diesem innovativen Umfeld das Thema Lebensmittelsicherheit zumindest klar definiert. Wie passen wir aber einzelne Regeln und Verordnungen an die neuen Technologien an?

Wissenschaft, Unternehmen und Behörden müssen über die technologischen Entwicklungen und anstehenden Veränderungen und deren Nutzen aktiv informieren. Denn sonst ist das fehlende Sicherheitsgefühl erneut das Einfallstor für Innovations- und Veränderungsgegner.

Wenn uns nur das „Sicherheitsgefühl“ bei künftigen Entscheidungen leitet, dann werden viele Innovationen nicht mehr in Deutschland stattfinden. Dann werden wir auch Ideen, die in Deutschland geboren wurden, als Importware beziehen und teuer bezahlen müssen. Entscheidungen über sicherheitsrelevante Themen müssen unter Abwägung der Fakten stattfinden, nicht basierend auf demoskopischen Befragungen über ein Sicherheitsgefühl.

 

Über den Autor

Stephan Becker-Sonnenschein ist ein ausgewiesener und leidenschaftlicher Kommunikationsexperte mit mehr als 30 Jahren Erfahrung in den verschiedensten Bereichen der Marken-, Verbände- und Politik-Kommunikation. Er organisiert seit drei Jahren den „Global Food Summit“ und berät Verbände und Unternehmen. Zuvor war er Geschäftsführer des Verbandes „Die Lebensmittelwirtschaft e.V.“, Leiter Unternehmenskommunikation und Sprecher von Telefónica O2 Germany, Kraft Foods WCE, RWE, Philip Morris und Burda Media. Während und nach dem Studium der Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität war Stephan Becker-Sonnenschein als freier Hörfunk- und Fernsehjournalist beim Bayerischen Rundfunk tätig. Ehrenamtlich leitete er als Geschäftsführer die International School of Bremen gGmbH und war Präsident der Deutschen Public Relations Gesellschaft.

 

Literatur

Daase, C., & Rühlig, T.N. (2016). Der Wandel der Sicherheitskultur nach 9/11. In S. Fischer & C. Marsala (Hrsg.), Innere Sicherheit nach 9/11. Sicherheitsbedrohungen und (immer)
neue Sicherheitsmaßnahmen? (S. 35-60). Wiesbaden: Springer VS.

Fröhlich, R. (2013). Informationsprozesse und -strukturen im Themenfeld Lebensmittelsicherheit. Eine qualitative Befragung von Journalisten und Vertretern von NGOs, öffentlichen Institutionen und Verbänden. Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung, Ludwig Maximilians Universität München

Landeszentrale für Politische Bildung Baden Würtemberg (o.J.). Was ist Sicherheit, aufgerufen 27.11.2018 https://www.lpb-bw.de/was_ist_sicherheit.html.